Legasthenie


Bei der Legasthenie handelt es sich um ein seit über 100 Jahren bekanntes Phänomen. Ursprünglich als „Wortblindheit“ bezeichnet, beschrieb man die Unfähigkeit, eine Buchstabenkombination als zusammengehöriges Ganzes zu erkennen bzw. wieder zu erkennen. Manchmal ist nur das Lesen betroffen, oft aber auch das Schreiben und die Rechtschreibung. Es kommt aber auch vor, dass nur die Rechtschreibung auffällig ist, während Lesen ganz gut funktioniert. Mittlerweile hat man erkannt, dass es sich bei der Legasthenie um eine neurobiologisch bedingte Schwäche beim Erwerb der Schriftsprache bei normaler Intelligenz und bei ausreichender Beschulung handelt. Die schlechten Lese- und Rechtschreibleistungen können oft auch durch zusätzlichen Unterricht nicht wirksam und dauerhaft gebessert werden.

Zusätzlich zu den klassischen medizinischen Untersuchungen erfordert die Diagnose Legasthenie mindestens 3 diagnostische Tests:
• einen altersnormierten Lesetest
• einen altersnormierten Rechtschreibtest
• einen Intelligenztest mit einem nichtsprachlichen Teil, in dem weder Lese- noch Schreibfähigkeiten gefordert werden.
Liegen dann die Lese- und/oder Rechtschreibleistungen deutlich unter dem Niveau, welches man bei den übrigen intellektuellen Fähigkeiten dieses Kindes erwarten kann, dann wird die Diagnose „Legasthenie“ gestellt.

Jungen sind etwa 3 bis 4 mal häufiger von Legasthenie betroffen als Mädchen. Einen systematischen Unterschied in den Leistungen gibt es bei den entsprechenden Tests allerdings nicht.

Bei Legasthenikern können folgenden Auffälligkeiten gefunden werden:
• Hörstörungen und / oder Hörwahrnehmungsstörungen
• Sehstörungen und / oder Sehwahrnehmungsstörungen
• zentrale Steuerungsprobleme bei funktioneller Kopfgelenksstörung im Rahmen eines KISS( Kopfgelenk induzierte Symmeriestörung ) bzw. Tonusasymmetrie-Syndroms (TAS )
• Störungen in anderen nicht mit der Hör- oder Sehwahrnehmung befassten Gehirnabschnitten.
Entsprechend diesen Störungen sollte auch die Diagnostik erfolgen.

Der HNO-Arzt überprüft die Teile des Hörorgans und der Hörbahn, welche Töne und Sprache übertragen. Er überprüft mit:
• dem Tonaudiogramm die Tonaufnahme in der Hörschnecke (Cochlea) und die Beweglichkeit der Gehörknöchelchen
• der Impedanz die Beweglichkeit des Trommelfells
• den otoakustischen Emissionen die Leistungsfähigkeit der Verstärkerzellen in der Hörschnecke.
• der Hirnstammaudiometrie den Verlauf der Hörbahn zum Gehirn
• dem Sprachaudiogramm sowohl die Hörwahrnehmung als auch das Sprachverständnis
• dem dichotischen Hörtest – dabei werden Seiten getrennt 2 verschiedene Worte gehört – Sprachwahrnehmung und auch die zentrale Hörverarbeitung.
Hören ist jedoch ein sehr komplexer Prozess, der sich nicht nur auf das Hören einzelner Töne oder das Hören von Sprache beschränkt. Die auditive Fähigkeit, d.h. Hören können, erfordert auch noch andere Fertigkeiten:
• Klangeigenschaften zu erkennen
• kurze Pausen zwischen den einzelnen Wörtern, auch zwischen den einzelnen Lauten zu erkennen
• die richtige Reihenfolge von kurz aufeinander folgenden Lauten wahrzunehmen und bei der Weitergabe an das Gehirn beizubehalten
• Töne, die das rechte und linke Ohr erreichen, in ihrer zeitlichen Reihenfolge nicht zu verwechseln.
Die klassischen Hörtests sind nicht geeignet, eine ungenügende zeitliche Gliederung mit daraus resultierender Behinderung des Sprachverständnisses zu überprüfen. Gleiches gilt auch für die anderen o. g. Teilleistungsstörungen beim Hören und bei der Hörwahrnehmung.

Eine auditive Teilleistungsstörung, d.h. eine Störung der Unterscheidungsfähigkeit der komplexen Verarbeitung der Hörsignale, bevor Wörter erkannt werden und Sprache bearbeitet wird, ist nur mit neuen nicht sprachgebundenen Testverfahren zu erfassen. Diese gehören in den nichtsprachlichen Bereich. Vier von ihnen beziehen sich auf die zeitliche Hörverarbeitung.
Bei diesen Testverfahren werden die
• Seitenordnung
• Zeitordnung
• Lautstärkeunterscheidung
• Tonhöhenunterscheidung
• Lückenunterscheidung
• Wahrnehmungstrennschärfe überprüft.

Von den ersten 5 Tests gibt es mittlerweile Normwerte, welche eine altersabhängige Entwicklung der sprachfreien auditiven Unterscheidungsfähigkeit belegen. Besondere Bedeutung haben hierbei die Bestimmung der Tonhöhe und der Zeitordnung.

Man darf aber nicht vergessen, dass jeder Mensch ein Individuum ist und bereits eine einzelne Störung der auditiven Wahrnehmung Folgen für die Entwicklung der Lese- Rechtsschreib-fähigkeit hat.

Was für das Hören gilt, gilt gleichermaßen auch für das Sehen. Die klassischen, vom Augenarzt durchgeführten Überprüfungen von Farbsehen, Stereosehen, Kontrastsehen und Bewegungssehen mögen unauffällig sein, schließen aber eine Störung in der zentralen Verarbeitung der Sinneseindrücke nicht aus. Auch für diesen Bereich wurden insbesondere vom Blicklabor Freiburg Testverfahren entwickelt, welche Störungen bei einer visuellen Teilleistungsstörung, d.h. einer Störung in den übergeordneten Hirnabschnitten, aufdecken können.

Geprüft werden:
• das dynamische Sehen
• die Blicksteuerung
• die Fixationsstabilität
• die Simultanerfassung.
Bei der Blicksteuerung prüft man die Fähigkeit des Auges, Sakkaden und Antisakkaden durchzuführen. Bei den Sakkaden handelt es sich um rasche Augenbewegungen. Dinge, die wir zunächst nur „aus dem Augenwinkel“ wahrnehmen, werden durch eine rasche Bewegung der Augen „ins Auge gefasst“ um sie gut sehen und richtig erkennen zu können.

Auch bei diesen 4 genannten visuellen Tests zeigten sich altersabhängige Ergebnisse. Sowohl bei den neuen Hörtest als auch bei den Testungen zur visuellen Wahrnehmung stellte sich heraus, das Entwicklung und Reifung der zentralen Strukturen erst im Alter von 20 – 30 Jahren ihren Höhepunkt erreichen. Bei Legasthenikern ist diese Reifung – in einem oder mehreren Tests auffällig werdend – verzögert. Einzelne Legastheniker erreichen auch später nicht die von nicht Betroffenen erzielbaren Messergebnisse.

Einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung motorischer und geistiger Fähigkeiten hat eines der wichtigsten Körpergelenke, den Übergang von der Wirbelsäule zum Kopf bzw. vom Rückenmark ins Gehirn betreffend. Dieses sogenannte Kopfgelenk besteht eigentlich aus mehreren Gelenken:
• dem Übergang vom Hinterkopf zum Atlas,
• dem Übergang vom Atlas (1. Halswirbel) zum Axis (2. Halswirbel),
• der Gelenkverbindung vom 2. zum 3. Halswirbel.

Eine funktionelle Kopfgelenksstörung – die drei genannten Strukturen werden unter diesem Begriff zusammengefasst – mit in der Folge gestörter Signalübertragung vom Rückmark zum Gehirn kann vielfältige Symptome verursachen. Neben Teilleistungsstörungen findet man bei den Betroffenen motorische Ungeschicklichkeiten, Störungen der Grobmotorik und der Feinmotorik, Kopfschmerzen, Infektanfälligkeit, Nervosität, Reizbarkeit und Aggressivität und Konzentrationsstörungen, fehlendes Selbstvertrauen, schneller Leistungsabfall, mangelnde Ausdauer und gestörte soziale Verträglichkeit. Bekannt sind diese Symptome mittlerweile unter dem Namen KISS-Syndrom (Kopfgelenk induzierte Symmetriestörung ) oder TAS (Tonus Asymmetrie-Syndrom). Das bedeutet, dass nicht nur Hörvermögen und Sehvermögen bei Legasthenikern überprüft werden müssen, sondern dass auch von einem erfahrenen Manual-Therapeuten der Funktionszustand dieser Gelenke überprüft werden muss und Fehlstellungen korrigiert werden sollten.

Höhere kortikale Funktionen sind eigentlich bei allen zuvor genannten Symptomen und Auffälligkeiten betroffen. Alles was wir sind, was wir wahrnehmen, ist letztendlich im Gehirn repräsentiert, wird dort bearbeitet, bewertet und führt zu von dort gesteuerten Reaktionen. Hier kann ein quantitatives EEG diagnostisch weiterhelfen. Diese spezielle mathematische Berechnung normaler Elektroencephalogramme zeigt Auffälligkeiten in den an der Sehverarbeitung und Hörverarbeitung beteiligten Hirnarealen. Diese Daten sind dann die Voraussetzung für ein EEG-gesteuertes Biofeedback. Dabei nutzt man die Fähigkeit des Gehirns, permanent zu lernen. Die ständige Rückmeldung der EEG-Signale führt zu einem Trainingseffekt mit besserer Verarbeitung der über die Sinnesorgane das Gehirn erreichenden Signale.

Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit, Teilleistungsstörungen zu bessern. Auf der Basis der oben bereits genannten Testverfahren wurden Trainingsmethoden entwickelt, welche in hohem Prozentsatz zu einer wesentlichen Besserung der geistigen Leistungsfähigkeit und damit auch der auditiven und visuellen Verarbeitung führen. Hier gilt aber auch: Ohne Fleiß kein Preis, d.h. wer nicht regelmäßig übt, wird keine Fortschritte erzielen.

Bei einer Legasthenie handelt es sich leider nicht um eine offiziell anerkannte Erkrankung im Sinne des SGB V, so dass nicht immer alle diagnostischen Verfahrensschritte und Therapieangebote von den Krankenkassen übernommen werden.

Was uns betrifft, so führen wir alle klassischen Hörtestverfahren und auch die Diagnostik bei Verdacht auf KISS / TAS-Syndrom zu Lasten der Krankenkasse durch.

Unser weitergehendes Diagnostikangebot:
• Messung der Ordnungsschwelle
• Farbabhängige Leseprüfung
• Wahrnehmungstrennschärfetest
• quantitative EEG-Untersuchung
Unser weitergehendes Therapieangebot:
• Klangtherapie
• EEG-gesteuertes Biofeedback (Neurofeedback)
• bei Kiss-Syndrom: risikolose manuelle Therapie (Craniosacraltherapie, kinästhetische Mobilisation)
Die nicht vom Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen genehmigten Test- und Therapieverfahren müssen wir Ihnen, sofern Sie diese wünschen, in Rechnung stellen.

Bezüglich weiterer, von uns nicht angebotener Testverfahren – dies betrifft insbesondere die Augendiagnostik – arbeiten wir mit spezialisierten Therapeuten zusammen, zu denen wir Sie bei Bedarf gerne weiter vermitteln.


Dr. Klaus Brill


Literaturhinweis:

Hören. Sehen, Blicken, Zählen: Teilleistungen und ihre Störungen von Burkhard Fischer, erschienen im Verlag Hans Huber, Bern 2007 (2. vollständig überarbeitete Auflage)


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